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Tausend und Ein Gespenst

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Dumas Alexandre (père)
Tausend und Ein Gespenst

Erster Band

Vorrede

»Mein lieber Veron!

Sie haben mir oft in diesen so selten gewordenen Abendgesellschaften, in welchen Jedermann nach seinem Gefallen plaudert, indem er entweder den Traum seines Herzens erzählt, oder der Laune seines Geistes folgt, oder den Schatz seiner Erinnerungen verschwendet, gesagt, daß ich seit Scheherazads und nach Nodier einer der unterhaltendsten Erzähler wäre, den Sie gehört hätten.

Da schreiben Sie mir heute, daß Sie in Erwartung eines langen Romanes von mir, – Sie wissen, eines jener endlosen Romane, wie ich deren schreibe, und in welchem ich ein ganzes Jahrhundert auftreten lasse, – Sie gern einige Erzählungen, – zwei, vier oder höchstens sechs Bände haben mögten, arme Blumen meines Gartens, welche Sie unter die politischen Sorgen des Augenblickes, – zum Beispiel zwischen den Prozeß von Bourges und die Wahlen des Monats Mai auszustreuen gedenken.

Leider! Mein Freund, ist die Zeit betrübt und ich sage Ihnen im Voraus, daß meine Erzählungen nicht lustig sein werden. Nur werden Sie erlauben, daß ich müde dessen, was ich täglich sich in der wirklichen Welt zutragen sehe, meine Erzählungen in der erdichteten Welt suche. Leider fürchte ich sehr, daß es allen ein wenig erhabenen, ein wenig poetischen, ein wenig tiefer denkenden Geistern in diesem Augenblicke geht wie mir, nämlich, daß sie das Ideale aufsuchen, die einzige Zuflucht, welche uns Gott gegen die Wirklichkeit läßt.

Sehen Sie, ich befinde mich da unter fünfzig Bänden, die ich in Bezug auf eine Geschichte der Regentschaft, welche ich so eben beendigt, aufgeschlagen habe, und ich bitte Sie, wenn Sie davon Bericht erstatten, die Mütter aufzufordern, ihre Töchter dieselbe nicht lesen zu lassen. Nun denn! Wie ich Ihnen sagte, bin ich daran, und indem ich Ihnen schreibe, verweilen meine Augen auf einer Seite der Memoiren des Marquis d'Argenson, auf welcher ich unter den Worten: Von der Unterhaltung ehedem und jetzt, ich Folgendes lese:

»»Ich bin überzeugt, daß zu der Zeit, wo das Hotel von Rambouillet der guten Gesellschaft den Ton angab, man aufmerksam zuhörte und vernünftig urtheilte. Man bildete seinen Geschmack und seinen Geist aus. Ich habe noch Muster dieser Art der Unterhaltung unter den Greisen des Hofes gesehen, mit denen ich umging. Sie hatten das richtige Wort, Energie und Feinheit, einige Gegensätze, aber Benennungen, welche den Sinn erhöhten; Gründlichkeit ohne Pedanterie, Munterkeit ohne Bosheit.««

Es ist gerade Hundert Jahre her, daß der Marquis d'Argenson diese Zeilen schrieb, welche ich aus seinem Buche abschreibe. – Er war zu der Zeit, in welcher er sie schrieb ohngefähr in unserem Alter, – und wie er, mein lieber Freund, – können wir sagen: – Wir haben Greise gekannt, welche das waren, was wir leider nicht mehr sind, – das heißt Leute von guter Gesellschaft.

Wir haben sie gesehen, aber unsere Söhne werden sie nicht sehen. Woraus hervorgeht, daß wir, obgleich wir nicht viel welch sind, doch noch mehr werth sein werden, als unsere Söhne.

Wahr ist es, daß wir mit jedem Tage einen Schritt auf die Freiheit, die Gleichheit, die Bruderliebe zu thun, drei gewichtige Worte, welche die Revolution von 93, Sie wissen, die andere, die alte, mitten unter die moderne Gesellschaft geschleudert hat, wie sie es mit einem Tiger, einem Löwen und einem Bären in Lammfelle gehüllt gethan hätte; unglücklicher Weise leere Worte, welche man durch den Pulverdampf des Juni auf unseren von Kugeln durchlöchern öffentlichen Gebäuden gelesen hat.

Ich! – ich gehe wie die Anderen voran; – ich folge der Bewegung. Gott bewahre mich, den Stillstand zu predigen. – der Stillstand ist der Tod. Aber ich gehe wie einer jener Männer, von denen Dante spricht, – dessen Füße freilich vorwärts schreiten, – dessen Kopf aber nach der Seite seiner Fersen gewandt ist.

Und das, was ich vor Allem suche, – das, was ich vor Allem bedaure,– das, was mein rückwärts gelichteter Blick in der Vergangenheit sucht, das ist die Gesellschaft, welche davon geht, – welche verdunstet, – welche wie eines jener Gespenster verschwindet, deren Geschichte ich Ihnen erzählen will.

Kurz eine Gesellschaft welche das elegante Leben, das höfliche Leben, dieses Leben ausmachte, das der Mühe werth war, gelebt zu sein (verzeihen Sie mir den Verstoß gegen die Sprache; da ich kein Mitglied der Akademie bin, so darf ich ihn wagen), ist diese Gesellschaft gestorben oder haben wir sie umgebracht?

Sehen Sie, ich erinnere mich, daß ich als kleiner Knabe von meinem Vater zu Frau von Montesson geführt worden bin. Sie war eine vornehme Dame, durchaus eine Frau des vorigen Jahrhunderts. Sie hatte vor ohngefähr sechszig Jahren den Herzog von Orleans, den Großvater Ludwig Philipps geheirathet; sie war neunzig Jahre alt. Sie wohnte in einem großen und glänzenden Hotel der Chaussée d'Antin. Napoleon setzte ihr einen Jahrgehalt von Hundert Tausend Thalern aus.

Wissen Sie, auf welchen Anspruch diese von dem Nachfolger Ludwig des XVI. in das rothe Buch eingeschriebene Rente gegründet war? – Nein. – Nun denn! Frau von Montesson bezog von dem Kaiser eine Rente von Hundert Tausend Thalern dafür, weil sie in ihrem Salon die Gebräuche der guten Gesellschaft aus den Zeiten Ludwig des XIV. und Ludwig des XV. erhalten hätte.

Das ist gerade die Hälfte von dem, was die Kammer jetzt seinem Neffen dafür gibt, daß er Frankreich das vergessen lasse, woran sein Onkel wollte, daß es sich erinnere.

Sie werden Eines nicht glauben, mein lieber Freund, daß diese beiden Worte, welche ich die Unvorsichtigkeit gehabt habe auszusprechen: die Kammer, mich gerade auf die Memoiren des Marquis d'Argenson zurückführen.

Wie das?

Sie sollen sehen.

»»Man beklagt sich, sagte er, daß es in unseren Tagen keine Unterhaltung mehr in Frankreich gibt. Ich weiß wohl den Grund davon. Er besteht darin, daß die Geduld zu hören mit jedem Tage bei unseren Zeitgenossen abnimmt. Man hört nicht aufmerksam, oder man hört vielmehr gar, nicht mehr. Ich habe diese Bemerkung in der besten Gesellschaft gemacht, welche ich besuche.««

Welches ist nun aber, mein lieber Freund, die beste Gesellschaft, die man in unseren Tagen besuchen kann? Es ist ganz zuverlässig die, welche acht Millionen Wähler für würdig gehalten haben, die Interessen, die Meinungen, den Genius Frankreichs zu vertreten. Kurz, es ist die Kammer.

Nun denn! Betreten Sie auf den Zufall hin, an welchem Tage und zu welcher Stunde Sie wollen, die Kammer. Es steht Hundert gegen Eins zu wetten, daß Sie auf der Rednerbühne einen Mann finden werden, welcher spricht, und auf den Bänken fünf bis sechs Hundert Personen, die nicht auf ihn hören, sondern die ihn unterbrechen.

Was ich Ihnen da sage, ist so wahr, daß es in der Constitution von 1848 einen Artikel gibt, der die Unterbrechungen untersagt.

Zählen Sie demnach die in der Kammer seit ohngefähr einem Jahre, als wie lange sie versammelt ist, gegebene Anzahl von Ohrfeigen und Faustschlägen, – sie ist unzählbar!

Wohl verstanden, immer im Namen der Freiheit, der Gleichheit und der Bruderliebe.

Wie ich Ihnen sagte, mein lieber Freund, bedaure ich daher gar Vieles, nicht wahr? Obgleich ich ohngefähr die Hälfte des Lebens überschritten habe; – nun denn! das, was ich am Meisten unter dem bedaure, was entschwunden ist oder was entschwindet, – das ist das, was der Marquis von Argenson vor Hundert Jahren bedauerte: – Die Höflichkeit.

Und dennoch hatte man zu den Zeiten des Marquis von Argenson noch nicht den Einfall gehabt, sich Bürger zu nennen. – Urtheilen Sie daher.

Wenn man zum Beispiele dem Marquis von Argenson zu der Zeit, wo er diese Worte schrieb, gesagt hätte:

Sehen Sie, wie weit wir in Frankreich gekommen sind; der Vorhang fällt; jedes Schauspiel verschwindet; es gibt nur noch Pfeifen, welche pfeifen. Bald werden wir weder anmuthige Erzähler in der Gesellschaft, noch Künste, noch Malereien, noch erbaute Paläste mehr haben. Aber Neidische auf Alles und überall.

Wenn man ihm zu der Zeit, wo er diese Worte schrieb, gesagt hätte, daß man, – zum Mindesten ich, – dazu gelangen würde diese Zeit zu beneiden, so würde man diesen armen Marquis von Argenson sehr in Erstaunen versetzt haben, nicht wahr? – Was thue ich daher auch? – Ich lebe viel mit den Todten, – ein wenig mit den Verbannten. – Ich versuche, die erloschenen Gesellschaften, die verschwundenen Menschen wieder aufleben zu lassen, – die, welche nach Ambra rochen, statt nach der Cigarre zu riechen; – die, welche sich Degenstöße versetzten, statt die jetzt üblichen Faustschläge.

Und deshalb, mein Freund, verwundern Sie sich, wenn ich plaudere, eine Sprache sprechen zu hören, die man nicht mehr spricht. – Deshalb sagen Sie mir, daß ich ein unterhaltender Erzähler bin. – Deshalb wird meine Stimme, das Echo der Vergangenheit, noch in der Gegenwart gehört, welche so wenig und so schlecht hört.

Das kommt am Ende daher, weil wir, wie jene Venetianer des XVIII. Jahrhunderts, denen die Aufwandgesetze verboten, etwas Anderes als Leinwand und grobes Tuch zu tragen, – immer noch gern sich Seide und Sammet, und die schönen Goldbrocate entfalten sahen, aus denen das Königthum die Kleider unserer Väter anfertigte.

Ich sende Ihnen also Ihrem Wunsche gemäß die beiden ersten Bände von meinen Tausend und Ein Gespenst; es ist eine einfache Einleitung unter den Titel: Ein Tag in Fontenay-aux-Roses.

Ganz der Ihrige

Alexander Dumas.

Einleitung

Ein Tag in Fontenay-aux-Roses

I.
Die Straße Diana in Fontenay-aux-Roses

Im ersten September des Jahres I83l wurde ich von einem meiner alten Freunde, Büreauchef der Privatdomänen des Königs, eingeladen, mit seinem Sohne die Jagd in Fontenay-aux-Roses zu eröffnen.

Ich liebte zu jener Zeit die Jagd sehr, und in meiner Eigenschaft als großer Jäger war die Wahl der Gegend, in welcher jedes Jahr die Eröffnung derselben stattfinden sollte, eine wichtige Angelegenheit.

Gewöhnlich gingen wir zu einem Pächter, oder vielmehr einem Freunde meines Schwagers; bei ihm hatte ich, indem ich einen Hasen schoß, meinen Anfang in der Wissenschaft der Nimrods und der Elzéar Blazes gemacht. Sein Pachthof lag zwischen den Wildern von Compiègne und Villers-Cotterets, eine halbe Meile von dem reizenden Dorfe Morienval, eine Stunde von den prachtvollen Ruinen von Pierrefonds entfernt gelegen.

Die zwei.bis drei Tausend.Morgen Land, welche seine Pächtern bilden, bieten eine unermeßliche, fast ganz mit Waldung umgebene Ebene, welche etwa in Mitte von einem hübschen Thal durchschnitten ist, auf dessen Grunde man unter grünen Wiesen und Bäumen mit schillernden Farben halb in dem Laube verlorene Häuser liegen sieht, welche sich durch bläuliche Rauchsäulen ankündigen, die, durch die sie umgebenden Berge geschützt, anfangs gerade gen Himmel aufsteigen, und dann, in die höheren Luftlagen gelangt, sich, wie die Gipfel der Palmen ausgeweitet, in der Richtung des Windes beugen.

In diese Ebene und auf dem doppelten Abhange dieses Thales läßt sich das Wild der beiden Wälder wie auf einen neutralen Boden herab.

Man findet daher auf der Ebene von Brassoire Alles. – Rehe und Fasanen, indem man an den Waldungen entlang geht, – Hasen auf den Hochebenen, – Kaninchen an den Abhängen, – Rebhühner um die Meierei herum, – Herr Moequet, das ist der Name unseres Freundes, war also gewiß, uns ankommen zu sehen; wir jagten den ganzen Tag über, und kehrten am folgenden Tage um zwei Uhr nach Paris zurück, indem wir vier bis fünf Jäger Hundert und fünfzig Stück Wild geschossen hatten, von dem unser Wirth niemals ein Einziges hat annehmen wollen.

Aber dieses Jahr hatte ich, – Herrn Mocquet ungetreu. – den Bitten meines alten Bureaukameraden nachgegeben, indem ich durch ein Gemälde verführt worden war, das mir sein Sohn, ein ausgezeichneter Schüler der Römischen Schule gesandt hatte, und das eine Ansicht des Ebene von Fontenay-aux-Roses mit Stoppeln voller Hasen und Kleefelder voller Rebhühner vorstellte.

Ich war niemals in Fontenay-aux-Roses gewesen; Niemand kennt die Umgegend von Paris weniger, als ich. – Wenn ich Paris verlasse, so geschieht es fast immer, um fünf bis sechs Hundert Stunden zurückzulegen. Bei der geringsten Platzveränderung ist daher für mich Alles ein Gegenstand der Neugierde.

Um sechs Uhr Abends fuhr ich nach Fontenay ab, den Kopf wie immer aus dem Schlage gestreckt; ich fuhr durch die Barrière d'Enfer, ließ die Straße de la Tomde-Issoire zu meiner Linken und schlug die Straße von Orleans ein.

Man weiß, daß Issoire der Name eines berüchtigten Räubers ist, der zu den Zeiten Julians die Reisenden brandschatzte, welche sich nach Lutetia begaben. – Wie ich glaube, wurde er ein wenig gehangen, und an dem Orte, der jetzt seinen Namen führt, in einiger Entfernung von den Katakomben begraben.