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Жизнь взаймы / Der Himmel kennt keine Günstlinge

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Эрих Мария Ремарк / Erich Maria Remarque
Жизнь взаймы / Der Himmel kennt keine Günstlinge

Адаптация текста, комментарии и словарь О. С. Беляевой

© 1964, 1991, 1998 by Verlag Kiepenheuer & Witsch GmbH & Co. KG, Cologne/ Germany

© Беляева О. С., адаптация текста, словарь

© ООО «Издательство АСТ», 2018

1

Clerfayt hielt den Wagen an einer Tankstation und hupte. Ein Junge von sechzehn Jahren kam heraus. Er trug einen roten Sweater und eine Brille.

»Füll den Tank auf[1]«, sagte Clerfayt.

»Mit Super?«

»Ja. Wo kann man noch etwas zu essen bekommen?« Der Junge zeigte über die Straße.

»Dort. Heute Mittag war Berner Platte.«

Das Restaurant war ungelüftet[2] und roch nach altem Bier und langem Winter. Clerfayt bestellte Bündner Fleisch, Brot, Käse und eine Karaffe Aigle. Er ließ sich das Essen von dem Mädchen auf die Terrasse bringen. Es war nicht sehr kalt draußen. Der Himmel war massiv und blau.

»Soll ich den Wagen waschen?« fragte der Junge von der Tankstelle her.

»Nein. Mach nur die Windschutzscheibe [3]sauber.«

Der Wagen war lange nicht gewaschen worden und zeigte es. Wozu bin ich nur hierher gefahren? dachte Clerfayt. Zum Skilaufen ist es zu spät. Und Mitleid? Mitleid ist ein schlechter Reisebegleiter – und ein noch schlechteres Reiseziel.

Warum fahre ich nicht nach München? Oder nach Mailand? Aber was soll ich in München tun? Oder in Mailand? Oder irgendwo anders? Ich bin müde, dachte er. Er trank den Wein aus und ging zurück.

Er ließ sich noch zwei Pakete Zigaretten und Streichhölzer geben und bezahlte seine Rechnung.

»Sind das Kilometer?« fragte draußen der Junge im roten Sweater und zeigte auf den Geschwindigkeitsmesser.

»Nein, Meilen.«

Der Junge fragte. »Was machen Sie denn hier in den Alpen? Warum sind Sie mit einer solchen Karre[4] nicht auf der Autostrada?«

Clerfayt sah ihn an. Blinkende Brillengläser, eine aufgeworfene Nase, Pickel, abstehende Ohren.

»Man tut nicht immer, was richtig ist, mein Sohn«, sagte er. »Sogar, wenn man es weiß. Darin kann manchmal der Charme des Lebens liegen. Verstehst?«

»Nein«, erwiderte der Junge. »Aber die SOS-Telefone finden Sie auf dem ganzen Paß. Wenn Sie stecken bleiben, holen wir Sie. Hier ist unsere Nummer.«

»Habt ihr keine Bernhardiner mehr mit Schnapsfläschchen um den Hals?«

»Nein. Der Kognak ist zu teuer, und die Hunde wurden zu schlau. Sie tranken den Schnaps selbst. Dafür haben wir jetzt Ochsen[5]

»Du hast mir heute noch gefehlt«, sagte Clerfayt schließlich. »Ein Alpenschlauberger [6]auf zwölfhundert Meter Höhe! Heißt du vielleicht auch noch Pestalozzi oder Lavater?«

»Nein. Göring.«

»Was?«

»Göring.« Der Junge zeigte ein Lächeln, in dem ein Vorderzahn fehlte. »Aber Hubert mit Vornamen.«

»Verwandt mit dem —«

»Nein. Wir sind Basler Görings. Wenn ich zu den andern gehörte, brauchte ich hier nicht Benzin zu zapfen. Dann kriegten wir eine gute Pension.«

Clerfayt schwieg einen Augenblick. »Ein sonderbarer Tag«, sagte er dann. »Wer hätte das erwartet? Alles Gute, mein Sohn, für dein weiteres Leben. Du warst eine Überraschung.«

»Sie nicht. Sie sind Rennfahrer, nicht wahr?«

»Warum?«

Hubert Göring zeigte auf eine fast abgewaschene Nummer unter dem Dreck auf der Kühlerhaube[7].

»Ein Detektiv bist du auch noch?« Clerfayt stieg in den Wagen.

Er ließ den Motor an. »Sie haben vergessen zu bezahlen«, erklärte Hubert. »Zweiundvierzig Fränkli.«

Clerfayt gab ihm das Geld. »Fränkli!« sagte er. »Das beruhigt mich wieder, Hubert. Ein Land, in dem das Geld einen Kosenamen hat, wird nie eine Diktatur.«

Eine Stunde später saß der Wagen fest. Clerfayt könnte umdrehen und wieder hinunterfahren; aber er hatte keine Lust, Hubert Göring so schnell wieder zu sehen. So blieb er geduldig in seinem Wagen sitzen, rauchte Zigaretten, trank Kognak und wartete auf Gott.

Gott erschien nach einiger Zeit in Gestalt eines kleinen Schneepfluges. [8]

Clerfayt teilte den Rest seines Kognaks mit dem Führer. Dann fuhr der Mann vor und begann mit seiner Maschine den Schnee zur Seite zu werfen. Zweihundert Meter weiter war die Straße wieder frei. Der Führer winkte ihm nach. Er trug, ebenso wie Hubert, einen roten Sweater und eine Brille.

Clerfayt hielt den Wagen einen Augenblick an und sah hinunter. Dann fuhr er langsam die Kurven hinab. Irgendwo da unten in einem Sanatorium mußte Hollmann wohnen, sein Beifahrer, der vor einem Jahr krank geworden war. Der Arzt hatte Tuberkulose festgestellt, und Hollmann hatte darüber gelacht – so etwas gab es doch nicht mehr im Zeitalter der Antibiotika. Aber die Wundermittel waren nicht ganz so gut gewesen, besonders nicht bei Menschen, die im Kriege aufgewachsen waren und wenig zu essen gehabt hatten. Bei der Tausendmeilenfahrt in Italien hatte Hollmann kurz vor Rom eine Blutung bekommen. Der Arzt sagte, man muss ihn für ein paar Monate in die Berge schicken. Aus den paar Monaten war jetzt fast ein Jahr geworden.

Der Motor begann plötzlich zu spucken. Clerfayt hielt den Wagen und öffnete die Motorhaube.

Es waren, wie immer, die Kerzen des zweiten und vierten Zylinders. Er putzte sie und ließ die Maschine wieder an. Der Motor funktionierte jetzt.

Das plötzliche Heulen des Motors erschreckte die Pferde, die von der anderen Seite kamen. Sie stiegen auf und rissen den Schlitten quer auf den Wagen zu.

Ein großer Mann, der eine Kappe aus schwarzem Pelz trug, stand im Schlitten auf und redete beruhigend auf die Tiere ein. Neben ihm saß eine junge Frau. Sie hatte ein braunes Gesicht und sehr helle Augen.

»Es tut mir leid, daß ich Sie erschreckt habe«, sagte Clerfayt. »Vielen Dank, daß Sie uns retten wollten« , sagte der Mann.

Clerfayt blickte auf. »Ich wollte nicht Sie retten«, erwiderte er trocken.

»Nur meinen Wagen vor Ihren Schlittenkufen.«

Das Sanatorium Bella Vista lag auf einer kleinen Anhöhe über dem Dorfe. Clerfayt parkte den Wagen neben dem Eingang, auf dem ein paar Schlitten standen. Er stellte den Motor ab und legte eine Decke über die Haube, um ihn warmzuhalten. »Clerfayt!« rief jemand vom Eingang her.

Er drehte sich um und sah zu seinem Erstaunen Hollmann auf sich zu gelaufen kommen. Er hatte geglaubt, er läge zu Bett.

»Clerfayt!« rief Hollmann. »Bist du es wirklich?«

»So wirklich, wie man es sein kann. Und du! Du läufst herum? Ich dachte, du liegst im Bett.«

Hollmann lachte. »Das ist hier altmodisch.« Er starrte auf den Wagen. »So eine Überraschung! Wo kommst du her?«

»Aus Monte Carlo.«

»So etwas!« Hollmann konnte sich nicht beruhigen. »Und mit Giuseppe, dem alten Löwen! Ich dachte schon, ihr habt mich vergessen!«

»Es ist Giuseppe. Aber er fährt keine Rennen mehr. Ich habe ihn von der Fabrik gekauft. Er ist jetzt im Ruhestand.«

»So wie ich.«

Clerfayt sah auf. »Du bist nicht im Ruhestand. Du bist auf Urlaub.«

»Ein Jahr! Das ist kein Urlaub mehr. Aber komm herein! Wir müssen das Wiedersehn feiern! Was trinkst du jetzt? Immer noch Wodka?«

Clerfayt nickte. »Gibt es bei euch denn Wodka?«

»Für Gäste gibt es hier alles. Dies ist ein modernes Sanatorium.«

»Das scheint so. Es sieht aus wie ein Hotel.«

»Das gehört zur Behandlung. Moderne Therapie. Wir sind Kurgäste; nicht mehr Patienten. Die Worte Krankheit und Tod sind tabu. Man ignoriert sie. Aber man stirbt trotzdem. Was hast du in Monte Carlo gemacht? Das Rallye mitgefahren? Mit wem hast du das Rallye gefahren?«

»Mit Torriani.«

Sie gingen dem Eingang zu. »Schön hier«, sagte Clerfayt.

»Ja, ein schönes Gefängnis.«

Clerfayt erwiderte nichts. Er kannte andere Gefängnisse. »Fährst du jetzt immer mit Torriani?« fragte Hollmann.

»Nein. Mal mit dem einen, mal mit dem anderen. Ich warte auf dich.«

Es war nicht wahr. Clerfayt fuhr seit einem halben Jahr die Sportwagen-Rennen mit Torriani.

»Hast du etwas im Rallye gemacht?« fragte er.

»Nichts. Wir waren zu spät.«

Clerfayt hob die Hand. »Lass uns etwas trinken. Und tu mir einen Gefallen: Lass uns über alles reden, nur nicht über Rennen und Automobile!«

»Aber warum? Ist etwas passiert?«

»Nichts. Ich bin müde. Möchte mich ausruhen. Das verstehst du doch.«

»Natürlich«, sagte Hollmann. »Aber was ist los?«

»Nichts«, erwiderte Clerfayt ungeduldig. »Ich bin nur abergläubisch[9], wie jeder andere. Mein Kontrakt läuft ab und ist noch nicht erneuert. Das ist alles.«

»Clerfayt«, sagte Hollmann, »wer ist gestürzt?«

»Ferrer.«

»Tot?«

»Noch nicht. Aber man hat ihm ein Bein amputiert. Komm jetzt und gib mir einen Schnaps.«

Sie saßen in der Halle an einem kleinen Tisch neben dem Fenster. Clerfayt sah sich um. »Sind das alles Kranke?«

»Nein. Auch Gesunde, die die Kranken besuchen.«

»Natürlich! Und die mit den blassen Gesichtern sind die Kranken?«

Hollmann lachte. »Das sind die Gesunden. Sie sind blaß, weil sie erst vor kurzem heraufgekommen sind. Die andern, die braun wie sind, sind die Kranken, die schon lange hier sind.«

Ein Mädchen brachte ein Glas Orangensaft für Hollmann und eine kleine Karaffe Wodka für Clerfayt.

»Wie lange willst du bleiben?« fragte Hollmann.

»Ein paar Tage.«

Hollmann holte eine flache Flasche aus der Brusttasche und goß einen Schluck in sein Glas.

»Gin«, sagte er. »Hilft auch.«

»Dürft ihr nicht trinken?« fragte Clerfayt.

»Es ist nicht ganz verboten; aber so ist es einfacher.« Hollmann schob die Flasche zurück in die Tasche.

Ein Schlitten hielt vor dem Eingang. Clerfayt sah, daß es derselbe war, dem er auf der Straße begegnet war. Der Mann mit der schwarzen Pelzkappe stieg aus.

»Weißt du, wer das ist?« fragte Clerfayt.

»Ein Russe. Er heißt Boris Wolkow. Hier weiß man bald alles über einander«, sagte Hollmann.

Eine Gruppe schwarzgekleideter kleiner Leute drängte sich hinter ihnen vorbei. Sie unterhielten sich lebhaft auf spanisch. »Für ein kleines Dorf scheint ihr ziemlich international zu sein«, sagte Clerfayt. »Das sind wir. Der Tod ist immer noch nicht chauvinistisch.«

»Dessen bin ich nicht mehr so ganz sicher.« Clerfayt blickte zur Tür. »Ist das da die Frau des Russen?« Hollmann sah sich um. »Nein.«

Der Russe und die Frau kamen herein. »Sind die beiden auch krank?« fragte Clerfayt.

»Ja.«

Der Russe und die Frau blieben neben der Tür stehen.

»Sie scheinen Streit zu haben«, sagte Clerfayt, nicht ohne Genugtuung[10].

»So etwas passiert hier. Jeder wird nach einiger Zeit etwas verrückt. Gefangenenlager-Psychose.«

Clerfayt sah Hollmann aufmerksam an. »Bei dir auch?«

»Bei mir auch.«

»Wohnen die beiden auch hier?«

»Die Frau; der Mann wohnt außerhalb.«

Clerfayt stand auf. »Ich fahre jetzt ins Hotel. Wo können wir zusammen zu Abend essen?«

»Hier. Wir haben ein Esszimmer, in dem Gäste erlaubt sind.« »Gut. Wann?«

»Um sieben. Ich muß um neun zu Bett. Wie in der Schule.«

»Wie beim Militär«, sagte Clerfayt.

Die Frau, die mit dem Russen hereingekommen war, kam zurück.

»Dies ist Clerfayt, Lillian«, sagte Hollmann. »Ich habe Ihnen von ihm erzählt. Er ist überraschend gekommen.«

Die Frau nickte. Sie schien Clerfayt nicht wieder zu erkennen.

Sie nickte Clerfayt und Hollmann zu und ging zurück.

»Und die Frau?«

»Sie heißt Lillian Dunkerque, Belgierin mit einer russischen Mutter.

Die Eltern sind tot.«

»Warum ist sie so aufgeregt?«

Hollmann hob die Schultern. Er wirkte plötzlich müde. »Ich habe dir schon gesagt, daß alle hier etwas verrückt werden. Besonders, wenn jemand gestorben ist.«

»Ist jemand gestorben?«

»Ja, eine Freundin von ihr. Gestern, hier im Sanatorium.

Sie fangen hier an zu sterben, wenn es Frühling wird. Mehr als im Winter. Merkwürdig, was?«

2

Die oberen Stockwerke des Sanatoriums sahen nicht mehr aus wie ein Hotel; sie waren ein Krankenhaus. Lillian Dunkerque blieb vor dem Zimmer stehen, in dem Agnes Somerville gestorben war. Sie hörte Stimmen und Lärm und öffnete die Tür.

Der Sarg war nicht mehr da. Die Fenster standen offen. Zwei Putzfrauen waren dabei.

»Hat man sie schon abgeholt?« fragte sie.

Eine der Putzfrauen antwortete »Sie ist im Zimmer Nummer sieben. Wir müssen hier saubermachen. Morgen früh kommt schon eine Neue.«

»Danke.«

Lillian schloß die Tür. Sie kannte Nummer sieben; es war ein kleines Zimmer neben dem Gepäckaufzug. Es war leicht, die Toten in der Nacht nach unten zu schaffen. [11]

In Zimmer sieben brannte kein Licht. Es waren auch keine Kerzen mehr da. Der Sarg war geschlossen. Alles war vorbereitet zum Transport. Die Blumen lagen auf einem Tisch nebenan. Die Kränze¹ lagen daneben. Die Vorhänge waren nicht zugezogen, und die Fenster standen offen. Es war sehr kalt im Zimmer. Der Mond schien hinein.

Lillian war gekommen, um die Tote noch einmal zu sehen. Es war zu spät. Man wird den Sarg diese Nacht heimlich hinunterbringen und ihn auf einem Schlitten zum Krematorium transportieren.

Lillian blickte auf den Sarg. Wenn sie noch lebte! dachte sie plötzlich. Ich bin verrückt, dachte Lillian; was denke ich da?

Sie ging zur Tür zurück; aber plötzlich blieb sie stehen und lauschte. Sie hörte ein Knistern sehr leise, aber deutlich. Ich höre Gespenster, dachte sie. Es war mein eigenes Kleid.

Sie starrte wieder auf den Sarg. In diesem Kasten war nur noch das absolute Nichts.

Sie machte hinter sich die Tür zu. Im Augenblick drehte sich die Klinke scharf in ihrer Hand. Die Tür öffnete sich. Vor Lillian stand ein überraschter Hausknecht [12]und starrte sie an. »Was ist los? Wo kommen Sie her?« Er blickte an ihr vorbei ins Zimmer. »Es war doch abgeschlossen! Wie sind Sie hereingekommen? Wo ist der Schlüssel?«

»Es war nicht abgeschlossen.«

»Dann muß jemand –« Der Hausknecht sah auf die Tür. »Da steckt er ja!« Er wischte sich über das Gesicht. »Wissen Sie, einen Moment dachte ich –«

»Was?«

Er deutet auf den Sarg. »Ich dachte, Sie wären die Tote.

So was!« Er lachte. »Das nennt man einen Schreck in der Nachtstunde!

Der Hausknecht drehte das Licht ab und schloß die Tür. »Freuen Sie sich, daß Sie es nicht sind, Fräulein«, sagte er gutmütig.

Lillian kramte Geld aus ihrer Tasche hervor. »Hier ist etwas für den Schreck, den ich Ihnen bereitet habe.« »Herzlichen Dank! Ich werde es mit meinem Kollegen Josef teilen. Nach einem so traurigen Geschäft schmeckt ein Bier mit Korn immer besonders gut. Nehmen Sie es sich nicht zu sehr zu Herzen, Fräulein. Einmal müssen wir alle dran glauben.«

»Ja«, erwiderte Lillian. »Das ist ein Trost. Ein wirklich wunderbarer Trost ist das, nicht wahr?«

Sie stand in ihrem Zimmer. Alle Lichter brannten. Ich bin verrückt, dachte sie. Ich habe Angst vor der Nacht. Ich habe Angst vor mir selbst. Was soll ich tun? Ich kann ein Schlafmittel nehmen und das Licht brennen lassen. Ich kann Boris anrufen und mit ihm sprechen. Sie hob die Hand nach dem Telefon, aber sie nahm den Hörer nicht ab. Sie wußte, was er ihr sagen würde.

Sie setzte sich in einen Sessel am Fenster. Ich bin vierundzwanzig Jahre alt, dachte sie, ebenso alt wie Agnes. Vier Jahre bin ich hier oben. Davor war fast sechs Jahre lang Krieg. Was kenne ich vom Leben? Zerstörung, die Flucht[13] aus Belgien, Tränen, Angst, den Tod meiner Eltern, Hunger, und dann die Krankheit durch den Hunger und die Flucht. Davor war ich ein Kind.

Ich kenne Okkupationen und Furcht und Verstecken und Kälte. Glück?

Ein Zimmer ohne Heizung war schon Glück gewesen, ein Brot, ein Keller, ein Platz, der nicht beschossen wurde. Dann war das Sanatorium gekommen. Sie starrte aus dem Fenster. Unten stand ein Schlitten neben dem Eingang für Lieferanten und Dienstboten. Vielleicht war es schon der Schlitten für Agnes Somerville. Vor einem Jahr war sie lachend mit Pelzen und Blumen am Haupteingang des Sanatoriums angekommen; jetzt verließ sie das Haus heimlich durch den Dienstboteneingang, als hätte sie ihre Rechnung nicht bezahlt. Vor sechs Wochen hatte sie mit Lillian noch Pläne gemacht für die Abreise.

Das Telefon klingelte. Sie hob es ab. »Ja, Boris. Ja, Boris. Ja, ich bin vernünftig – ja, ich weiß, daß viel mehr Menschen an Herzschlag und Krebs sterben – ich habe die Statistiken gelesen, ja, viele werden geheilt, ja, ja – die neuen Mittel, ja, Boris, ich bin vernünftig, bestimmt – nein, komm nicht – ja, ich liebe dich, Boris, natürlich –«

Sie legte den Hörer auf. »Vernünftig«, sagte sie »vernünftig!« Mein Gott, dachte sie, ich bin viel zu lange vernünftig gewesen! Wozu? Um in Zimmer sieben neben dem Gepäckaufzug zu sein?

Sie sah auf die Uhr. Es war kurz vor neun. Die Nacht lag dunkel und endlos vor ihr, voll mit Panik und Langeweile.

Lillian stand auf. Nur jetzt nicht alleinbleiben! Es mußten noch ein paar Leute unten sein – Hollmann zumindest und sein Besuch.

Im Speisezimmer saßen außer Hollman und Clerfayt noch drei Südamerikaner, zwei Männer und eine ziemlich dicke, kleine Frau. Alle drei waren schwarzgekleidet; alle drei schwiegen.

»Sie kommen aus Bogotá«, sagte Hollmann. »Man hat ihnen telegrafiert. Die Tochter des Mannes mit der Brille lag im Sterben. Aber seit sie hier sind, geht es dem Mädchen plötzlich besser. Jetzt wissen sie nicht, was sie tun sollen – zurückfliegen oder hier bleiben.«

»Warum bleibt die Mutter nicht hier, und die andern fliegen zurück?«

»Die dicke Frau ist nicht die Mutter. Sie ist die Stiefmutter; sie hat das Geld, von dem Manuela hier lebt. Sie schickten regelmäßig den Scheck und lebten in Bogotá, und Manuela lebte hier – seit fünf Jahren – und schrieb monatlich einen Brief. Der Vater und die Stiefmutter haben längst Kinder, die Manuela nicht kennt. Die Frau wollte den Mann nicht allein fliegen lassen. Sie ist älter als er und eifersüchtig, und sie weiß, daß sie zu dick ist. Jetzt will sie zeigen, daß sie sie liebt. Es ist also nicht nur eine Sache der Eifersucht, sondern auch eine des Prestiges. So sitzen sie da und warten.«

»Und Manuela?«

»Der Vater und die Stiefmutter liebten sie heiß, als sie ankamen, weil sie ja jede Stunde sterben sollte. Die arme Manuela, die nie Liebe gekannt hatte, war dadurch so beglückt, daß sie begann sich zu erholen. Jetzt sind die Eltern bereits ungeduldig. In einer Woche werden sie Manuela hassen, weil sie nicht schnell genug stirbt.«

Die drei schwarzen Gestalten standen auf. Sie hatten kein Wort miteinander gesprochen.

Sie stießen fast mit Lillian Dunkerque zusammen, die so rasch hereinkam, daß die dicke Frau erschrak. Lillian ging eilig an den Tisch zu Hollmann und Clerfayt. »Ich scheine heute abend jeden Menschen zu erschrecken.«

»Wen sonst?« fragte Hollmann.

»Den Hausknecht.«

»Was? Josef?«

»Nein, den andern, der Josef hilft. Sie wissen schon –«

Hollmann nickte. »Uns erschrecken Sie nicht, Lillian.«

»Josef ist an der Tür heute nacht. Ich habe mich erkundigt. Wir können raus. Kommen Sie mit?«

»Wohin? In die Palace Bar?«

»Wohin sonst?«

»In der Palace Bar ist nichts los«, sagte Clerfayt. »Ich komme gerade daher.«

Hollmann lachte. »Für uns ist immer genug los. Selbst wenn kein Mensch da ist.«

Hollmann hob die Schultern. »Ich habe etwas Temperatur, Lillian. Plötzlich, heute abend – weiß der Teufel, warum! Vielleicht, weil ich den schmutzigen Sportwagen Clerfayts wieder gesehen habe.«

Eine Putzfrau kam herein und begann, die Stühle auf die Tische zu stellen, um aufzuwischen.

Hollmann sah sie verlegen an. »Wie ist es mit Boris? Will er nicht mit?«

»Boris glaubt, ich schliefe. Ich habe ihn schon heute nachmittag gezwungen, mit mir auszufahren. Er würde es nicht noch einmal tun.«

Die Putzfrau zog die Vorhänge auf. »Da ist das Krokodil«, sagte Hollmann.

Die Oberschwester stand in der Tür. Sie lächelte mit starkem Gebiss und kalten Augen. »Feierabend, meine Herrschaften!« Sie sagte nichts darüber, daß Lillian Dunkerque noch auf war. »Feierabend«, wiederholte sie. »Zu Bett! Zu Bett! Morgen ist auch noch ein Tag!«

Lillian stand auf. »Sind Sie dessen so sicher?«

»Ganz sicher«, erwiderte die Oberschwester. »Für Sie liegt ein Schlafmittel auf Ihrem Nachttisch, Miss Dunkerque. Sie werden ruhen wie in Morpheus’ Armen!«

»Wie in Morpheus’ Armen!« wiederholte Hollmann mit Abscheu, als sie gegangen war. »Das Krokodil ist die Königin der Klischees. Heute abend war sie noch gnädig. Warum müssen diese Polizistinnen der Gesundheit jeden Menschen, wenn er in ein Hospital kommt, mit dieser entsetzlich geduldigen Überlegenheit behandeln, als wäre er ein Kind oder ein Kretin?«

»Es ist die Rache für ihren Beruf«, erwiderte Lillian böse. »Wenn Kellner und Krankenschwestern das nicht hätten, stürben sie an Minderwertigkeitskomplexen[14]

Sie standen in der Halle vor dem Aufzug. »Wohin gehen Sie jetzt?« fragte Lillian Clerfayt.

Er sah sie an. »Zur Palace Bar.«

»Nehmen Sie mich mit?«

Er zögerte einen Augenblick[15]. Er hatte gewisse Erfahrungen mit überspannten Russinnen. Auch mit Halbrussinnen. Aber dann erinnerte er sich an die Szene mit dem Schlitten und an das stolze Gesicht Wolkows. »Warum nicht?« sagte er.

Sie lächelte ein hilfloses Lächeln.

»Wo soll ich Sie abholen? Oder wollen Sie gleich mitkommen?«

»Nein. Sie müssen durch den Haupteingang hinausgehen. Das Krokodil paßt dort auf. Gehen Sie dann die erste Serpentine herunter, nehmen Sie dort einen Schlitten, und fahren Sie rechts hinter das Sanatorium zum Eingang für Lieferanten und Dienstboten. Ich komme da heraus.«

»Gut.«

Lillian stieg in den Aufzug. Hollmann wandte sich zu Clerfayt. »Es macht dir doch nichts, daß ich heute abend nicht mitkomme?«

»Natürlich nicht. Ich fahre ja morgen noch nicht weg.«

Hollmann blickte ihn forschend an. »Und Lillian? Wärst du lieber alleingeblieben?«

»Auf keinen Fall. Wer will schon alleinbleiben?«

Clerfayt ging durch die leere Halle hinaus. Nur ein kleines Licht brannte noch neben der Tür. Neben der Tür stand das Krokodil.

»Gute Nacht«, sagte Clerfayt.

»Good night«, erwiderte sie, und er konnte sich nicht vorstellen, warum sie auf einmal Englisch sprach.

Er ging die Serpentinen hinunter, bis er einen Schlitten fand.

»Fahren Sie bitte zum Sanatorium Bella Vista zurück – zum Hintereingang.«

Lillian Dunkerque wartete bereits. Sie hatte einen dünnen, schwarzen Pelz aus Breitschwanz um sich gezogen. Clerfayt hätte sich nicht gewundert, wenn sie in einem Abendkleid ohne Mantel gekommen wäre.

»Es hat alles geklappt«, flüsterte sie. »Ich habe Josefs Schlüssel. Er bekommt eine Flasche Kirsch dafür.«

Clerfayt half ihr in den Schlitten. »Wo ist Ihr Wagen?« fragte sie.

»Er wird gewaschen.«

»Haben Sie den Wagen heute abend Hollmanns wegen nicht heraufgebracht? Damit er ihn nicht sieht. Um ihn zu schonen.«

Es stimmte. »Nein«, erwiderte er.

Er holte ein Päckchen Zigaretten heraus. »Geben Sie mir auch eine«, sagte Lillian.

»Dürfen Sie rauchen?«

»Natürlich«, erwiderte sie so, daß er sofort spürte, es sei nicht wahr.

»Ich habe nur Gauloises. Schwarzen, schweren Tabak der Fremdenlegion.«

»Ich kenne sie. Wir haben sie während der Okkupation geraucht.«

»In Paris?«

»In einem Keller in Paris.«

Er gab ihr Feuer. »Woher sind Sie heute gekommen?« fragte sie. »Aus Monte Carlo?«

»Nein, aus Vienne.«

»Vienne? In Österreich?«

»Vienne bei Lyon. Sie kennen es sicher nicht. Es ist ein kleines Städtchen.«

»Sind Sie über Paris gekommen?«

»Das wäre ein zu großer Umweg gewesen. Paris liegt viel weiter im Norden.«

»Wie sind Sie gefahren?«

Clerfayt wunderte sich, warum sie das so genau wissen wollte. »Über Belfort und Basel. Ich hatte noch etwas in Basel zu tun.«

Lillian schwieg eine Weile. »Wie war es?« fragte sie dann.

»Was? Die Fahrt? Langweilig.«

Er begriff plötzlich, warum sie ihn so eingehend gefragt hatte. Für die Kranken hier oben waren die Berge Mauern, die ihre Freiheit beschränkten. Sie gaben ihnen den leichten Atem und die Hoffnung; aber sie konnten sie nicht verlassen. Ihre Welt war auf dieses Hochtal beschränkt, und deshalb war jede Nachricht von unten eine Nachricht aus dem verlorenen Paradies.

»Wie lange sind Sie schon hier?« fragte er.

»Vier Jahre.«

Der Schlitten hielt an der Einfahrt zur Hauptstraße. Eine Gruppe Touristen in Skianzügen zog lärmend an ihm vorbei. »Die Leute da zahlen eine Menge Geld, um hier heraufzukommen – und wir würden alles geben, um wieder hinunterzukommen – ist das nicht zum Totlachen?« »Nein«, erwiderte Clerfayt ruhig.

Der Schlitten zog wieder an. »Geben Sie mir noch eine Zigarette«, sagte Lillian.

Clerfayt hielt ihr das Paket hin. »Sie verstehen das alles sicher nicht«, murmelte sie. »Daß man sich hier wie in einem Gefangenenlager fühlen kann. Nicht wie in einem Gefängnis; da weiß man wenigstens, wann man herauskommt. Wie in einem Lager, wo es kein Urteil gibt.«

»Ich verstehe es«, sagte Clerfayt. »Ich war selbst in einem.«

»Sie? In einem Sanatorium?«

»In einem Gefangenenlager. Im Kriege. Aber bei uns war es gerade umgekehrt. Wir waren im flachen Moor eingesperrt, und die Schweizer Berge waren für uns der Traum der Freiheit. Wir konnten sie vom Lager aus sehen. Einer von uns, der aus dieser Gegend hier kam, machte uns fast verrückt mit seinen Erzählungen. Hätte man uns damals die Entlassung angeboten, wenn wir uns dafür verpflichtet hätten, einige Jahre in diesen Bergen zu leben, ich glaube, viele hätten das angenommen. Auch zum Totlachen, wie?«

»Nein. Hätten Sie es auch angenommen?«

»Ich hatte einen Plan zu fliehen.«

»Wer hätte den nicht? Sind Sie geflohen?«

»Ja.«

Lillian beugte sich vor. »Sind Sie entkommen? Oder wieder gefangen worden?«

»Entkommen. Ich wäre sonst nicht hier. Es gab nichts dazwischen.« »Und der andere Mann?« fragte sie nach einer Weile.

»Der, der immer von den Bergen hier erzählte?«

»Er starb an Typhus im Lager. Eine Woche bevor es befreit wurde.«

Der Schlitten hielt vor dem Hotel. Clerfayt sah, daß Lillian keine Überschuhe trug. Er hob sie heraus, trug sie über den Schnee und setzte sie vor dem Eingang nieder. »Ein Paar Seidenschuhe gerettet«, sagte er.

»Wollen Sie wirklich in die Bar?«

»Ja. Ich brauche etwas zu trinken.«

In der Bar stampften Skiläufer in schweren Schuhen auf der Tanzfläche herum. Der Kellner schob einen Tisch in einer Ecke zurecht. »Wodka?« fragte er Clerfayt.

»Nein. Etwas Heißes. Glühwein oder Grog.« Clerfayt sah Lillian an.

»Was von beiden?«

»Wodka. Haben Sie den nicht vorher auch getrunken?«

»Ja. Aber vor dem Essen.«

Er sah, daß sie ihn musterte. Wahrscheinlich glaubte sie, er wolle sie als Kranke behandeln und sie schonen. »Ich beschwindele Sie nicht«, sagte er. »Ich würde den Wein auch bestellen, wenn ich jetzt allein hier wäre. Wodka können wir morgen vor dem Essen trinken, soviel Sie wollen. Wir werden eine Flasche ins Sanatorium schmuggeln.«

»Gut. Dann lassen Sie uns den Wein trinken, den Sie gestern abend unten in Frankreich gehabt haben – im Hotel de la Pyramide in Vienne.«

Clerfayt war überrascht, daß sie die Namen behalten hatte. Man muß achtgeben bei ihr, dachte er; wer sich Namen so gut merkt, merkt sich auch anderes. »Es war ein Bordeaux«, sagte er, »ein Lafite Rothschild.« Es war nicht wahr. Er hatte in Vienne einen leichten Wein der Region getrunken, der nicht ausgeführt wurde; aber es war unnötig, das zu erklären. »Bringen Sie uns einen Château Lafite 1937, wenn Sie ihn haben«, sagte er dem Kellner. »Und wärmen Sie ihn nicht mit einer heißen Serviette an. Bringen Sie ihn lieber so, wie er im Keller liegt.«

»Wir haben ihn chambré, mein Herr.«

»Welch ein Glück!«

Der Kellner ging zur Bar und kam zurück. »Sie werden am Telefon verlangt, Herr Clerfayt.«

»Von wem?«

»Das weiß ich nicht, mein Herr. Soll ich fragen?«

»Das Sanatorium!« sagte Lillian nervös. »Das Krokodil!«

»Das werden wir gleich herausfinden.« Clerfayt stand auf. »Wo ist die Kabine?«

»Draußen, rechts neben der Tür zur Bar.«

»Bringen Sie inzwischen den Wein. Machen Sie die Flasche auf, und lassen Sie ihn atmen.«

»War es das Krokodil?« fragte Lillian, als er zurückkam.

»Nein. Es war ein Anruf aus Monte Carlo. Aus dem Hospital in Monte Carlo«, sagte er. »Ein Bekannter von mir ist gestorben.«

»Müssen Sie zurück?«

»Nein. Es ist da nichts weiter zu tun. Ich glaube sogar, daß es ein Glück für ihn war.«

»Ein Glück?«

»Ja. Er ist beim Rennen gestürzt und wäre ein Krüppel geblieben.«

Lillian starrte ihn an. »Denken Sie nicht, daß auch Krüppel manchmal noch gerne leben?« fragte sie sehr leise und plötzlich voll Hass.

Clerfayt antwortete nicht gleich. Die harte, metallische, Stimme der Frau, die ihn angerufen hatte, war noch in seinen Ohren: Was soll ich machen? Ferrer hat nichts hinterlassen! Kein Geld? Kommen Sie! Helfen Sie mir! Ich sitze fest! Sie sind schuld! Ihr alle seid schuld! Ihr mit euren verfluchten Rennen!

Er schüttelte es ab. »Es kommt darauf an«, sagte er zu Lillian. »Dieser Mann war sinnlos in eine Frau verliebt, die ihn mit jedem Mechaniker betrog. Und er war ein begeisterter Rennfahrer, der aber nie über den Durchschnitt hinausgekommen wäre. Alles, was er vom Leben wollte, waren Siege in großen Rennen und die Frau. Er starb, bevor er über beides die Wahrheit herausfand – und er starb auch, ohne zu wissen, daß die Frau ihn nicht mehr sehen wollte, weil er amputiert war. Das meine ich mit Glück.«

»Vielleicht hätte er trotzdem noch gerne gelebt!«

»Das weiß ich nicht«, erwiderte Clerfayt, plötzlich irritiert. »Aber ich habe Menschen elender sterben sehen. Sie nicht auch?«

»Ja«, sagte Lillian hartnäckig. »Aber alle hätten gern noch gelebt.«

Clerfayt schwieg. Was rede ich da nur? dachte er. Und wozu? Aber rede ich nicht, um mich selbst von etwas zu überzeugen, was ich nicht glaube? Diese harte, kalte, metallische Stimme von Ferrers Freundin am Telefon!

»Wollen wir darauf trinken?«

»Worauf?«

»Auf nichts. Auf ein bißchen Courage vielleicht.«

»Ich bin der Courage müde«, sagte Lillian. »Und des Trostes auch. Erzählen Sie mir lieber, wie es unten aussieht. Auf der anderen Seite der Berge.«

»Trostlos. Nichts als Regen. Seit Wochen.«

Sie stellte ihr Glas langsam auf den Tisch zurück.

»Regen!« Sie sagte es, als sagte sie: Leben. »Hier hat es seit Oktober nicht mehr geregnet. Nur geschneit. Ich habe schon fast vergessen, wie Regen aussieht«

Es schneite, als sie herauskamen. Sie fuhren die Serpentinen hinauf.

Die Straße war still. Schweigend fuhren sie und hielten vor dem Seiteneingang des Sanatoriums.

Sie öffnete die Tür. »Danke«, murmelte sie. »Und verzeihen Sie – ich war keine gute Gesellschaft. Aber ich konnte nicht allein sein heute abend.«

»Ich auch nicht.«

»Sie? Warum Sie nicht?«

»Aus demselben Grund wie Sie. Ich habe es Ihnen erzählt. Das Telefon aus Monte Carlo.«

»Aber Sie sagten doch, das sei ein Glück.«

»Es gibt verschiedene Arten von Glück. Und man sagt manches.« Clerfayt griff in die Tasche seines Mantels.

»Hier ist der Kirsch, den Sie dem Hausknecht versprochen haben.

Und hier die Flasche Wodka für Sie. Gute Nacht.«

3

Als Clerfayt erwachte, sah er einen bewölkten Himmel und hörte den Wind.

»Föhn«, sagte der Kellner. »Der warme Wind, der müde macht. Man fühlt ihn immer schon vorher in den Knochen. Die Bruchstellen[16] schmerzen.«

»Sind Sie Skiläufer?«

»Nein«, sagte der Kellner. »Ich habe nur noch einen Fuß. Aber Sie glauben nicht, wie der, der mir fehlt, bei diesem Wetter weh tut.«

Clerfayt beschloß, das Skilaufen zu verschieben. Er war ohnehin noch müde.Er hatte auch Kopfschmerzen. Der Kognak gestern nacht, dachte er. Warum hatte er weitergetrunken, nachdem er das sonderbare Mädchen mit seiner Mischung aus Weltschmerz und Lebensgier zum Sanatorium gebracht hatte? Merkwürdige Menschen hier oben. Ich war auch einmal so ähnlich, dachte er. Vor tausend Jahren. Habe mich gründlich geändert. Und was kam noch? Wie lange konnte er noch Rennen fahren? Was erwartete ihn noch?

Der Weltschmerz steckt an, dachte er und stand auf. Mitte des Lebens, ohne Ziel und ohne Halt. Er zog seinen Mantel an und entdeckte darin einen schwarzen Samthandschuh. Er hatte ihn gestern auf dem Tisch gefunden, als er allein in die Bar zurückgekommen war. Lillian Dunkerque mußte ihn vergessen haben. Er steckte ihn in die Tasche, um ihn später im Sanatorium abzugeben.

Er war eine Stunde durch den Schnee gegangen, als er, ein kleines Gebäude entdeckte. Er blieb stehen. »Was ist denn das da?« fragte er einen jungen Jungen, der vor einem Laden Schnee wegschaufelte. »Das Krematorium, mein Herr.«

Clerfayt hatte sich also nicht geirrt.

»Hier?« sagte er. »Wozu habt ihr denn hier ein Krematorium?«

»Für die Hospitäler natürlich. Die Toten.«

»Dazu brauchen sie ein Krematorium? Sterben denn so viele?«

»Jetzt nicht mehr so viele, mein Herr. Aber früher gab es hier viele Tote. Wir haben hier lange Winter. Ein Krematorium ist da viel praktischer. Wir haben unseres hier schon fast dreißig Jahre.«

»Es ist auch billiger. Die Leute wollen jetzt nicht mehr so viel Geld ausgeben für den Leichentransport. Früher war das anders.«

»Das glaube ich.«

»Mein Vater war ein Leichenbegleiter«, sagte der Bursche.

»Und dann kam das Krematorium. Anfangs war es nur für

Leute ohne Religion, aber jetzt ist es sehr modern geworden.«

»Das ist es«, bestätigte Clerfayt. »Nicht nur hier.«

Der Bursche nickte. »Die Leute haben keinen Respekt mehr vor dem Tode, sagte mein Vater. Die beiden Weltkriege haben das verursacht; es sind zu viele Menschen umgekommen. Immer gleich Millionen. Das hat seinen Beruf ruiniert, sagt mein Vater.«

»Was macht Ihr Vater jetzt?«

»Jetzt haben wir das Blumengeschäft hier.« Der Bursche zeigte auf den Laden, vor dem sie standen. »Wenn Sie irgend etwas brauchen, mein Herr, wir sind billiger als die Räuber im Dorf. Und wir haben manchmal herrliche Sachen. Gerade heute morgen ist eine frische Sendung gekommen. Brauchen Sie nichts?«

Clerfayt dachte nach. Blumen? Warum nicht? Er trat in den Laden.

Clerfayt sah eine Vase mit weißem Flieder und einen langen Zweig flacher, weißer Orchideen. »Sehr frisch!« sagte der kleine Mann. »Heute erst angekommen. Hält sich mindestens drei Wochen. Es ist eine seltene Art.«

»Sind Sie Orchideenkenner?«

»Ja, mein Herr. Ich habe viele Sorten gesehen. Auch im Ausland.«

»Packen Sie es ein«, sagte er und zog den schwarzen Samthandschuh Lillians aus der Tasche. »Legen Sie dies dazu. Haben Sie einen Briefumschlag und eine Karte?«

Er ging zurück zum Dorf.

Er trat in eine Kneipe. »Einen doppelten Kirsch.«

»Nehmen Sie einen Pflümli«, sagte der Wirt. »Wir haben einen ganz hervorragenden.«

»Gut. Geben Sie mir einen doppelten.«

Der Wirt schenkte das Glas bis zum Rande voll. Clerfayt trank es leer.

»Geben Sie mir noch einen«

Er ging zur Garage, um nach Giuseppe zu sehen. Der Wagen stand in dem großen, dämmerigen Raum ziemlich weit hinten, mit dem Kühler zur Wand.

Clerfayt blieb am Eingang stehen. Er sah im Halbdunkel jemand am Steuer sitzen. »Spielen Ihre Lehrlinge hier Rennfahrer?« fragte er den Besitzer der Garage, der mit ihm gekommen war.

»Das ist kein Lehrling. Er sagt, er wäre ein Freund von Ihnen.« Clerfayt sah schärfer hin und erkannte Hollmann.

»Stimmt das nicht?« fragte der Besitzer.

»Doch, es stimmt. Wie lange ist er schon hier?«

»Noch nicht lange. Fünf Minuten.«

»Ist er das erste Mal hier?«

»Nein; er war heute morgen schon einmal da – aber nur für einen Augenblick.«

Hollmann saß mit dem Rücken zu Clerfayt am Steuer Giuseppes. Es war ohne Zweifel, daß er in seiner Phantasie ein Rennen fuhr. Clerfayt überlegte einen Augenblick, dann ging er hinaus.

»Verraten Sie nicht, daß ich ihn gesehen habe«, sagte er.

Der Mann nickte ohne Neugier.

»Lassen Sie ihn mit dem Wagen machen, was er will. Hier –« Clerfayt zog den Autoschlüssel aus der Tasche. »Geben sie ihm den Schlüssel, wenn er danach fragt. Wenn er nicht fragt, stecken Sie ihn in die Zündung, wenn er fortgegangen ist. Für das nächste Mal. Natürlich, ohne die Zündung einzuschalten. Sie verstehen?«

»Ich soll ihn machen lassen, was er will? Auch mit dem Schlüssel?« »Auch mit dem Wagen«, sagte Clerfayt.

Er traf Hollmann beim Mittagessen im Sanatorium. Hollmann sah müde aus. »Föhn«, sagte er. »Jeder fühlt sich bei dem Wetter schlecht. Und du?«

»Normaler Katzenjammer. Zuviel getrunken.« [17]

»Mit Lillian?«

»Nachher. Hier oben merkt man es nicht, während man trinkt – dafür aber am nächsten Morgen.«

Clerfayt sah sich im Speisesaal um. Es waren nicht viele Leute da. Die Südamerikaner saßen in ihrer Ecke. Lillian fehlte. »Bei diesem Wetter bleiben die meisten im Bett«, sagte Hollmann.

»Warst du schon draußen?«

»Nein. Hast du von Ferrer gehört?«

»Er ist tot.«

Sie schwiegen eine Weile.»Was machst du heute nachmittag?« fragte Hollmann.

»Schlafen und herumlaufen. Kümmere dich nicht um mich. Ich bin froh, an einem Platz zu sein, wo es außer Giuseppe fast kein Auto gibt.« Die Tür öffnete sich. Boris Wolkow sah herein. Er kam nicht in das Zimmer, sondern schloß die Tür sofort wieder. »Er sucht Lillian«, sagte Hollmann.

Clerfayt stand auf. »Ich gehe schlafen. Die Luft hier macht müde, du hast recht. Kannst du heute abend aufbleiben? Hier, zum Essen?«

»Natürlich. Ich habe heute kein Fieber.«

»Also bis acht.«

»Heute abend ist Budenzauber hier bei einer Italienerin, Maria Savini. Heimlich natürlich.«

»Gehst du hin?«

Hollmann sagte »Ich habe keine Lust. Diese Art von Budenzauber wird immer gemacht, wenn einer gestorben ist. Man trinkt und redet sich dann neue Courage an.«

»Also eine Art von Leichenschmaus?« [18]

»Ja, so ähnlich. Bis heute abend, Clerfayt.«

Der Husten hatte aufgehört. Lillian Dunkerque legte sich erschöpft zurück. Die wöchentliche Röntgendurchleuchtung war obligatorisch.

Sie hasste die Intimität des Röntgenraumes. Sie hasste es, mit nacktem Oberkörper dazustehen. Es irritierte sie nicht so sehr, daß sie nackt war; es irritierte sie, daß sie mehr als nackt war, wenn sie an den Schirm trat. Sie war dann nackt unter der Haut, nackt bis auf die Knochen.

Die Schwester kam. »Wer ist vor mir?« fragte Lillian.

»Fräulein Savini.«

Lillian folgte der Schwester zum Aufzug. Sie sah durch das Fenster den grauen Tag. »Ist es kalt?« fragte sie.

»Nein. Vier Grad.«

Der Frühling wird bald da sein, dachte sie. Der kranke Wind, der Föhn, das nasse Wetter, die schwere Luft. Maria Savini kam aus dem Röntgenkabinett. Sie schüttelte ihr schwarzes Haar zurecht. »Wie war es?« fragte Lillian.

»Er sagt nichts. Ist schlechter Laune.Kommst du heute abend zu mir rüber?«

»Ich weiß noch nicht.«

»Fräulein Dunkerque, der Professor wartet«, mahnte die Schwester aus der Tür.

»Komm!« sagte Maria. »Die andern kommen auch! Ich habe neue Platten aus Amerika. Phantastisch!«

Lillian trat in das halbdunkle Kabinett. »Endlich!« sagte der Dalai

Lama.

Die Schwester reicht ihm die Fieberkarte. Er studierte sie und flüsterte mit dem Assistenzarzt. »Licht aus!« sagte der Dalai Lama schließlich. »Bitte nach rechts – nach links – noch einmal –«

Die Untersuchung dauerte länger als gewöhnlich. »Zeigen Sie mir noch einmal das Krankenblatt«, sagte der Dalai Lama.

Die Schwester machte das Licht an. Lillian stand neben dem Schirm und wartete. »Sie hatten zwei Rippenfellentzündungen?« fragte der Dalai Lama.

Lillian antwortete nicht sofort. Wozu fragte er? Es stand ja im Krankenblatt. »Stimmt es, Fräulein Dunkerque?« wiederholte der Professor.

»Ja.«

»Sie können ins Zimmer nebenan gehen.«

Lillian folgte der Schwester. »Was ist es?« flüsterte sie. »Flüssigkeit?«

Die Schwester schüttelte den Kopf. »Vielleicht die Temperaturschwankungen«

»Aber das hat doch nichts mit meinen Lungen zu tun! Es ist nur die Aufregung! Miss Somervilles Abreise! Der Föhn! Ich bin doch negativ! Ich bin doch nicht positiv! Oder doch?«

»Nein, nein. Kommen Sie, legen Sie sich hin! Sie müssen fertig sein, wenn der Professor kommt.«

Die Schwester rückte die Maschine heran. Es nützt nichts, dachte Lillian. Für Wochen habe ich nun alles getan, was sie wollten, und anstatt besser ist es sicher wieder schlechter geworden. Daß ich gestern ausgerissen bin, kann nicht der Grund sein. Was will er jetzt mit mir machen? Der Professor kam herein. »Ich habe kein Fieber«, sagte Lillian. »Es ist nur etwas Aufregung. Schon seit einer Woche habe ich kein Fieber mehr, und vorher hatte ich es auch nur, wenn ich aufgeregt war.«

Der Dalai Lama setzte sich neben sie und fühlte nach einem Punkt für die Spritze. »Bleiben Sie für die nächsten Tage im Zimmer.«

»Ich kann nicht immer im Bett bleiben.Es macht mich verrückt.«

»Sie brauchen nur im Zimmer zu bleiben. Heute im Bett.«

In ihrem Zimmer holte Lillian die Flasche Wodka und goß ein Glas ein.

Die Schwester mußte jeden Augenblick mit ihrem Abendessen kommen, und sie wollte heute nicht beim Trinken erwischt werden.

Ich bin noch nicht zu dünn, dachte sie und stellte sich vor den Spiegel. Ich habe ein halbes Pfund zugenommen. Eine große Leistung. Sie trank sich ironisch zu und versteckte die Flasche wieder. Von draußen hörte sie jetzt den Wagen mit ihrem Essen. Sie griff nach einem Kleid.

»Ziehen Sie sich an?« fragte die Schwester. »Sie dürfen doch nicht hinaus.«

»Ich ziehe mich an, weil ich mich dann besser fühle.« Die Schwester schüttelte den Kopf.

»Hier ist ein Paket für Sie. Es sieht aus wie Blumen.«

Boris, dachte Lillian und nahm den weißen Karton.

»Wollen Sie es nicht aufmachen?« fragte die Schwester neugierig.

»Später.«

Die Schwester ging endlich. Lillian öffnete den weißen Karton mit der blauen Seidenschleife.

Sie schlug das Seidenpapier auseinander und ließ den Karton im gleichen Augenblick fallen.

Sie starrte auf die Orchideen am Boden. Sie kannte die Blumen. Sie hatte sie aus Zürich kommen lassen. Es war kein Zweifel mehr möglich – die Blumen, die auf dem Teppich vor ihr lagen, waren dieselben, die sie auf den Sarg Agnes Somervilles gelegt hatte.

Rasch öffnete sie die Tür zu ihrem Balkon und warf die Blumen über den Balkon nach draußen. Sie sah den Handschuh auf dem Boden. Sie erkannte ihn jetzt und erinnerte sich, ihn getragen zu haben, als sie mit Clerfayt in der Palace Bar gewesen war. Clerfayt, dachte sie, was hatte er damit zu tun? Sie mußte es erfahren! Sofort!

Es dauerte eine Weile, bevor er zum Telefon kam.

»Haben Sie mir meinen Handschuh zurückgeschickt?« fragte sie.

»Ja. Sie hatten ihn in der Bar vergessen.«

»Sind die Blumen auch von Ihnen? Die Orchideen?«

»Ja. Haben sie meine Karte nicht bekommen?«

»Ihre Karte?«

»Haben Sie sie nicht gefunden?«

»Nein!« Lillian schluckte. »Noch nicht. Woher haben Sie die Blumen?«

»Aus einem Blumengeschäft«, erwiderte Clerfayt erstaunt. »Warum?«

»Hier im Dorf?«

»Ja, aber warum? Sind sie gestohlen?«

»Nein. Oder vielleicht doch. Ich weiß es nicht«

Lillian schwieg.

»Soll ich hinaufkommen?« fragte Clerfayt.

»Ja.«

»Wann?«

»In einer Stunde; dann ist es hier still.«

»Gut, in einer Stunde. Am Dienstboteneingang?«

»Ja.«

Lillian legte den Hörer zurück. Gott sei Dank, dachte sie, da war jemand, dem man nichts zu erklären brauchte.

Clerfayt stand an der Seitentür. »Können Sie keine Orchideen leiden?« fragte er und zeigte auf den Schnee.

Die Blumen und der Karton lagen noch da. »Woher haben Sie sie?« fragte Lillian.

»Aus einem kleinen Blumengeschäft unten – etwas außerhalb des Dorfes. Warum? Sind sie verhext?«

»Diese Blumen – dieselben Blumen«, sagte Lillian mit Mühe, »habe ich gestern auf den Sarg meiner Freundin gelegt. Alles ist zum Krematorium geschickt worden. Ich weiß nicht, wie…«

»Zum Krematorium?« fragte Clerfayt.

»Ja.«

»Guter Gott! Das Geschäft, in dem ich die Blumen gekauft habe, liegt nicht weit vom Krematorium. Es ist ein kleiner Laden, und ich habe mich schon gewundert, woher die Blumen kamen. Das erklärt es!«

»Was?«

»Ein Angestellter des Krematoriums muß sie, anstatt sie mit zu verbrennen, weggenommen und an den Laden verkauft haben.«

Sie starrte ihn an. »Ist so etwas denn möglich?«

»Warum nicht? Blumen sind Blumen.«

Clerfayt nahm Lillians Arm. »Was wollen wir tun? Einen Schock bekommen oder über den Geschäftsgeist der Menschheit lachen? Ich schlage vor, wir lachen.«

Lillian sah auf die Blumen. »Ekelhaft«, flüsterte sie. »Von einer Toten zu stehlen.«

»Nicht mehr und nicht weniger ekelhaft als vieles andere«, erwiderte Clerfayt. »Ich hätte auch nie gedacht, daß ich einmal Leichen nach Zigaretten und Brot durchsuchen würde und habe es doch getan. Im Kriege. Es ist anfangs scheußlich; aber man gewöhnt sich daran, besonders wenn man sehr hungrig ist und lange nicht geraucht hat. Kommen Sie, wir gehen etwas trinken.«

Sie blickte immer noch auf die Blumen. »Sollen sie da liegen bleiben?«

»Natürlich. Sie haben nichts mehr mit Ihnen, nichts mit der Toten und nichts mit mir zu tun. Ich schicke Ihnen morgen neue. Aus einem anderen Geschäft.«

Der Schlitten hielt. Vor dem Eingang zum Hotel lagen Bretter über dem feuchten Schnee. Lillian stieg aus.

Er folgte ihr. Worin lasse ich mich da ein? dachte er. Und mit wem? Immerhin, es war etwas anderes, als Lydia Morelli, mit der er vor einer Stunde ein Telefongespräch aus Rom gehabt hatte. Lydia Morelli, die jeden Trick kannte und keinen vergaß.

Er holte Lillian an der Tür ein. »Heute abend«, sagte er, »wollen wir einmal über nichts anderes reden als über die oberflächlichsten[19] Dinge der Welt.« Eine Stunde später war die Bar gepackt voll. Lillian blickte zur Tür.

»Da kommt Boris«, sagte sie. »Ich hätte es mir denken sollen.«

Clerfayt hatte den Russen bereits gesehen. Er ignorierte Clerfayt. »Dein Schlitten wartet draußen, Lillian«, sagte er.

»Schick den Schlitten weg, Boris«, erwiderte sie. »Ich brauche ihn nicht. Das ist Herr Clerfayt. Du bist ihm schon einmal begegnet.«

»Wirklich?« sagte Wolkow. »Oh, in der Tat! Bitte, verzeihen Sie.« Er sah knapp an Clerfayt vorbei. »In dem Sportwagen, der die Pferde scheu machte, nicht wahr?«

Clerfayt spürte den versteckten Hohn[20]. Er antwortete nicht und blieb stehen. »Du hast wahrscheinlich vergessen, daß morgen noch einmal Röntgenaufnahmen gemacht werden sollen«, sagte Wolkow zu Lillian.

»Ich habe es nicht vergessen, Boris.«

»Du mußt ausgeruht sein und geschlafen haben.«

»Ich weiß das. Ich habe noch Zeit dazu.«

Sie sprach langsam, wie man zu einem Kind spricht, das einen nicht versteht.

»Ich muß noch auf jemand warten«, sagte er zu Lillian. »Wenn du inzwischen den Schlitten –«

»Nein, Boris! Ich will noch bleiben.«

Clerfayt hatte jetzt genug. »Ich habe Miss Dunkerque hierher begleitet«, sagte er ruhig. »Und ich glaube fähig zu sein, sie wieder zurückzubringen.«

Wolkow sah ihn rasch an. Sein Gesicht veränderte sich. Dann faßte er sich und ging zur Bar.

Clerfayt setzte sich. Er war nicht mit sich zufrieden. Was tue ich da? dachte er. Ich bin doch nicht mehr zwanzig Jahre alt! »Warum gehen Sie nicht zurück mit ihm?« fragte er mißmutig.

»Wollen Sie mich loswerden?«

Er sah sie an. Sie schien hilflos zu sein, aber er wußte, daß Hilflosigkeit das Gefährlichste war, was es bei einer Frau gab – denn keine Frau war wirklich hilflos.

»Natürlich nicht«, sagte er. »Bleiben wir also!«

Sie blickte zur Bar hinüber. »Er geht nicht«, flüsterte sie. »Er bewacht mich. Er glaubt, daß ich nachgeben werde.«

Clerfayt nahm die Flasche und füllte die Gläser. »Gut. Lassen wir es also darauf ankommen, wer zuerst müde wird.«

»Sie verstehen ihn nicht«, erwiderte Lillian scharf.

»Er ist nicht eifersüchtig.«

»Nein?«

»Nein. Er ist unglücklich und krank und sorgt sich um mich. Es ist leicht, überlegen zu sein, wenn man gesund ist.«

Clerfayt stellte die Flasche zurück. Diese loyale, kleine Bestie! »Möglich«, sagte er gleichmütig. »Aber ist es ein Verbrechen, gesund zu sein?« Sie wandte sich ihm zu. »Natürlich nicht«, murmelte sie. »Ich weiß nicht, was ich rede. Es ist besser, ich gehe.«

Sie griff nach ihrer Tasche, aber sie stand nicht auf.

* * *

Clerfayt hatte von ihr genug, aber er hätte sie um nichts in der Welt gehen lassen, solange Wolkow noch an der Bar stand und auf sie wartete »Sie brauchen mit mir nicht besonders vorsichtig zu sein«, sagte er. »Ich bin nicht sehr empfindlich.«

»Hier ist jeder empfindlich.«